Wenn das innere Kind keine Ruhe gibt
„Ich habe merkwürdig geträumt“, sage ich. Wir liegen noch im Bett.
„Was hast du geträumt?“ fragt sie.
„Davon, dass ich nirgendwo richtig dazu gehöre“, antworte ich.
Sie dreht sich zu mir, wartet darauf, dass ich weiterrede.
„Die Bilder sind recht diffus“, fahre ich fort. „Es waren mehrere Situationen. Die Clique beim Fußball, Bekannte, Familie ...“
„Wie hast du gemerkt, dass du nicht dazu gehörst?“ fragt sie.
„Sie haben mich ignoriert“, antworte ich. „Auf eine WhatsApp-Nachricht nicht geantwortet, mich nicht in Gespräche eingebunden. Eine Bekannte von mir kam mir und anderen auf dem Fahrrad entgegen. Sie winkte allen beim Vorbeifahren zu. Ich winkte auch. Und sie schaute an mir vorbei ohne zu winken.“
„Das klingt für mich nach etwas anderem als Zugehörigkeit“, sagt sie.
„Wie meinst du das?“ frage ich.
„Das klingt, als würdest du nicht gesehen“, antwortet sie.
„Hm“, mache ich und blicke weiter an die Schlafzimmerdecke. „Vielleicht.“
„Darf ich eine Vermutung äußern?“ fragt sie.
„Klar“, antworte ich.
„Ich vermute, da möchte jemand Aufmerksamkeit“, sagt sie.
„Hm", mache ich. "Das klingt nach dem kleinen Sven.“ Ich spüre, wie sich der bekannte Kloß im Hals bildet.
„Hast du dich schon mit ihm auseinandergesetzt?“ fragt sie. „Hast du einen Zugang zu ihm? Weißt du, was er gerade braucht?“
„Nein, antworte ich. „Ich habe gerade nicht die Kraft dafür.“
„Das verstehe ich“, sagt sie und streichelt meinen Kopf. „Und wie sagtest du gestern so schön? Du wirst so lange die Chance bekommen, bis du es geschafft hast.“
Ich lächele. „Ja, der Kleine wird wohl keine Ruhe geben, bis ich mich mit ihm auseinander gesetzt habe.“
Schon ein oder zwei Wochen vor diesem Traum hab ich gespürt, dass irgendetwas in mir aus dem Gleichgewicht geraten war. Ich fühlte mich irgendwie unzufrieden. Kleinigkeiten fingen an, mich zu nerven. Oder besser: Ich war schneller genervt von Kleinigkeiten, war ruhelos und angespannt. Und das, obwohl gerade alles gut läuft. Im Job bekomme ich positive Rückmeldung, mein Herzensprojekt macht mir wahnsinnigen Spaß und ich habe einen Menschen an meiner Seite, der mich versteht und bei dem ich ohne Angst so sein kann, wie ich bin. Und doch, irgendetwas war aus der Balance geraten. Der Traum ist da nur ein weiteres Teil in einem Puzzle, bei dem jemand den Deckel mit dem fertigen Bild versteckt hat.
Und wie das so ist mit Puzzles, wenn du einmal angefangen hast, willst du es auch fertig machen. So ähnlich geht es mir, seitdem ich versuche, mich selbst besser zu verstehen und die Beziehung zu mir selbst besser zu pflegen. Das Bild nimmt Form an, aber an einigen Stellen sehe ich nur die Tischplatte unter dem Puzzle. Eine Stelle sind die Emotionen aus meiner Kindheit. Oder vielleicht besser: Der Zugang zu meinem inneren Kind. Wenn ich auf mich als Kind schaue und mich an meine frühe Kindheit erinnere, tue ich das immer als unbeteiligter Beobachter. Ich habe keinen Zugang zu dem, was ich damals gefühlt habe. Keine Erinnerung an Gefühle. Ich kann mich an Situationen und Ereignisse erinnern, aber nicht, was ich damals fühlte. Wenn ich mir den kleinen Sven vorstelle, dann habe ich nicht das Gefühl, auf mich zu schauen, sondern einfach auf ein kleines Kind. Mein Verstand weiß, dass ich das bin. Doch ich spüre keine emotionale Bindung.
Mein Gefühlsausbruch vor ein paar Wochen, ausgelöst durch die Frage, ob ich als kleines Kind vielleicht wirklich mal geschrien habe und keiner kam, war der erste Zugang zu dem, was in mir schlummert. Zum ersten Mal haben sich Emotionen aus dieser Zeit Bahn gebrochen. Das fühlte ich gut an. Und ich erzählte dir ja damals schon, dass es mit Sicherheit nur die Spitze des Eisbergs war. Ich möchte den ganzen Eisberg sehen. Wissen, wie groß er unter der Wasseroberfläche ist. Ich möchte verstehen, was der kleine Sven braucht und warum er sich immer wieder meldet.
Doch wie dringe ich zu ihm durch? Wenn ich versuche, mit ihm zu sprechen, dann fühlt sich das komisch an. Ich habe es versucht, leise, in meinem Kopf. Doch ich spreche zu einem Kind, dessen Emotionen mich nicht erreichen, obwohl ich dieses Kind bin. Das hilft mir nicht. Also habe ich angefangen, meinem inneren Kind, dem kleinen Sven, Briefe zu schreiben. Ich habe ihm erklärt, dass ich auf der Suche nach ihm bin und nicht weiß, wie und wo ich ihn finden kann. Über Seiten erzählte ich ihm, wie es mir geht. Versuchte, darüber eine Verbindung aufzubauen. Doch die meiste Zeit fühlte ich mich wie ein Elternteil, dass sich bei seinem Kind dafür rechtfertigt, früher nicht da gewesen zu sein, als das Kind es gebraucht hätte. Zugang fand ich mit diesem ersten Brief jedoch nicht zum kleinen Sven.
Dann schickte mir meine liebe Verbündete heute einen Link zu einer Meditation zu einer Inneren-Kind-Reise. Meditieren hat mir früher schon geholfen, wenn auch meist dabei, zur Ruhe zu kommen. Also packte ich meinen Laptop nach Feierabend zur Seite und begab mich auf die Reise zu meinem inneren Kind. Und es war krass. Die Episode des Podcasts hatte eine Trigger-Warnung: „Achtung! Sehr intensiv und transformierend." Aber auf das, was während dieser Meditation passierte, konnte sie mich nicht vorbereiten. Das war so heftig wie bisher wenig in meinem Leben.
Im Grunde war die Reise recht einfach. Durch die Meditation begibst du dich als Beobachter in eine Situation aus deiner Kindheit. Du achtest darauf, was du fühlst, wenn du diese Situation beobachtest. Dann versetzt du dich hinein in dein kindliches Ich, das du vorher nur beobachtet hast. Du spürst seine Emotionen, schaust durch seine Augen. Schließlich betrittst du als erwachsener Mensch die Situation und begibst dich mit deinem kindlichen Ich auf Augenhöhe. Du erlebst jetzt gemeinsam mit ihm diese Situation. Um sie dann schließlich gemeinsam zu verlassen und dein inneres Kind erst an dich zu nehmen und dann in dich auf.
Ich bin nicht mal dazu gekommen, die Situation aus meiner Kindheit komplett zu erfassen. Das Bild, das vor meinem inneren Augen entstand, zeigte mein kindliches Ich in einem Raum auf dem Boden sitzend. Der Raum schien recht leer. Wo genau dieser Raum war, das konnte ich nicht erkennen. Auch sonst blieb die Situation eher diffus. Was mich dann allerdings überrollte, waren die Emotionen, die durch dieses Bild ausgelöst wurden. Aus dem Nichts. Sie sprudelten mir in einer Art und Weise entgegen, die es mir unmöglich machte, das Bild schärfer zu stellen. Ich weinte und schluchzte, mein Oberkörper bebte und ich konnte ihn nicht still halten. Mir lief der Rotz hemmungslos aus der Nase und ich weinte und schluchzte immer lauter allein auf der Couch in meinem Wohnzimmer.
Ich kann dir gar nicht sagen, welche Emotionen da wirkten. War es Angst, Trauer, Wut, Verzweiflung. Oder war es Erleichterung oder sogar Befreiung. Ich weiß es nicht. Die Emotionen waren so intensiv und stark, dass es mir nicht möglich war, genauer hinzuschauen oder mehr als ihre Heftigkeit wahrzunehmen. Mir fiel es unfassbar schwer, über den Atem zurück in die Mediation zu finden. Und kaum hatte ich mich etwas beruhigt, schlug die nächste Welle über mir zusammen. Ich habe keine Ahnung, was da in mir verborgen ist. Ich weiß nicht, was der kleine Sven damals in diesem Raum empfunden hat. Ich weiß nur, dass es heftig war. So heftig, dass ich noch nicht hin schauen kann, ohne von Emotionen übermannt zu werden.
Am Ende der Meditation habe ich es zumindest geschafft, mit dem kleinen Sven aus diesem Raum heraus auf eine grüne Wiese zu gehen. Wir konnten lachen und die Sonne genießen. Doch auch diese Szene habe ich wieder nur von außen beobachtet. Mein Kopf wusste, wer die beiden Personen sind: der kleine Sven und der erwachsene Sven. Doch eine Verbindung zu diesen beiden Personen habe ich in der Beobachterrolle nicht gespürt. Obwohl die beiden ja ich sind.
Das war auf jeden Fall eine beeindruckende Erfahrung. Noch einige Minuten nach dieser Reise zitterten meine Lippen und meine Wangen und Füße kribbelten. Und gleichzeitig fühlte ich mich ruhig und offen. Es hat sich wieder etwas in mir gelöst, auch wenn ich noch nicht weiß, was es ist. Es wird wohl noch die eine oder andere Innere-Kind-Reise brauchen, bis ich verstehe, was der kleine Sven sich wirklich wünscht und was er von mir braucht. Und bis ich das herausgefunden habe, wird er sich immer wieder melden und auf sich aufmerksam machen. Und ich werde hinschauen und versuchen, zu ihm durchzudringen. Ich spüre gerade Wärme bei diesem Gedanken.